Martin Schulz
September 2017
Liebe
Genossinnen, liebe Genossen,
wir haben eine schwere Wahlniederlage erlitten und das historisch
schlechteste Wahlergebnis der SPD seit Gründung der Bundesrepublik
Deutschland eingefahren. Wir haben die vierte Wahlniederlage in Folge bei
einer Bundestagswahl erlebt. Das ist bitter für die gesamte Partei. Das
ist bitter für uns alle, die wir als Parteimitglieder oder Unterstützer
engagiert gekämpft haben. Und es ist bitter für mich persönlich, denn ich
möchte der Partei Stolz und Selbstbewusstsein zurückgeben und zusammen
mit Euch dafür sorgen, dass wir endlich wieder einen sozialdemokratischen
Regierungschef in Deutschland bekommen. Das hat am 24. September nicht
geklappt. Für diese Niederlage trage ich als Parteivorsitzender und
Kanzlerkandidat die Hauptverantwortung.
Natürlich habe ich am Sonntagabend mit mir gerungen und mich gefragt, ob
es nicht besser wäre zurückzutreten. Nach unzähligen Gesprächen mit
Genossinnen und Genossen in Parteiführung, Fraktion und im ganzen Land,
nach vielen Gesprächen, Telefonaten und Briefen von Menschen aus
allen Regionen in Deutschland, bin ich aber zu der Überzeugung gelangt,
dass ich zusammen mit der Partei den dringend notwendigen Neuanfang der
SPD voranbringen möchte. Das will ich gemeinsam mit Andrea Nahles tun,
die als neue Fraktionsvorsitzende ihre Ideen, Ziele und Erfahrungen
einbringen wird.
Weder 2005, noch 2009 oder 2013 hat es eine ehrliche und tiefergehende
Debatte über die Gründe der damaligen Wahlniederlagen gegeben und es sind
auch keine echten Konsequenzen gezogen worden. Strukturell,
organisatorisch, inhaltlich und strategisch hat sich unsere Partei
seitdem nicht ausreichend weiterentwickelt. Auch in der praktischen
Durchführung der Wahlkampagne 2017 haben sich alte Fehler wiederholt. Wie
schon 2009 und 2013 haben wir auch dieses Mal beim Verfahren zur
Bestimmung des Kanzlerkandidaten einen Weg gewählt, der uns zu wenig Zeit
für die Vorbereitung der Kampagne gelassen hat. Spätestens seit Sonntag
ist klar: Um wieder und dauerhaft erfolgreich sein zu können, müssen wir
deutlich besser werden und zwar auf allen Ebenen.
Gerade mit Blick auf die bitteren Erfahrungen unserer europäischen
Schwesterparteien muss uns allen klar sein: Es geht in den nächsten vier
Jahren um nicht weniger als um die Existenz der deutschen, ja der
europäischen Sozialdemokratie.
Wir leben in einer Welt, die immer schneller wird, die immer mehr
zusammenwächst und sich permanent verändert. Das 21. Jahrhundert hat
große Herausforderungen mit sich gebracht, denen wir uns stellen müssen:
- Wie
sorgen wir dafür, dass wir fortschrittlich bleiben und die
Digitalisierung nicht Arbeitsplätze gefährdet, sondern neue schafft? Wie
sorgen wir dafür, dass unser Bildungssystem zukunftsorientiert ist,
internationalen Vergleichen standhält und der Vereinbarkeit von Familie
und Beruf dient?
- Wie gestalten wir eine moderne Gesellschaft, in der Frauen und Männer
vollständig gleichberechtigt sind? In der alle die gleichen Chancen haben
und nicht Herkunft, Name und Wohnort über die Zukunft entscheiden?
- Wie machen wir unser Land gerechter? Wie sichern wir unsere sozialen
Systeme, wenn unsere Gesellschaft immer älter wird und es mehr und mehr
Selbstständige gibt?
- Wie gehen wir endlich konsequent damit um, dass wir auf einem
Einwanderungskontinent leben? Wie viel Zuwanderung braucht unser Land und
wie sorgen wir dafür, dass Menschen, die zu uns kommen, eine faire Chance
haben und eine gerechte Behandlung erfahren?
- Wie schaffen wir es, als Land gemeinsam stark zu sein? Dass nicht auf der
einen Seite die Ballungszentren bis an die Grenzen der Belastung
florieren, während andere Regionen abgehängt werden oder gar aussterben?
- Welche Antworten geben wir auf die zunehmende Angst, Überforderung und
Verunsicherung in Teilen unserer Gesellschaft?
- Wie verteidigen wir, in unserer Tradition als Bollwerk der Demokratie,
unsere Gesellschaft gegen die Rechtsextremisten?
- Wie kann Europa in unsicheren Zeiten zu mehr Frieden und Stabilität
beitragen? Wie machen wir Europa zur Vorzeigeregion für die Versöhnung
von Umwelt- und Klimaschutz mit wirtschaftlicher und industrieller
Stärke?
Wir müssen uns als Partei diesen Fragen stellen, auch den unangenehmen.
Wir werden streiten und zu gemeinsamen Positionen kommen müssen. Ein
weiterer Wahlkampf, der sich diesen großen Fragen nicht stellt, ist zum
Scheitern verurteilt. Deshalb geht es in den nächsten Jahren darum,
Antworten zu finden. Es geht darum, eine neue Geschichte der
Sozialdemokratie im 21. Jahrhundert zu definieren. Unser ganzer Kontinent
steht vor epochalen Aufgaben und Veränderungen und es liegt an uns,
diesen Wandel zu gestalten.
Wir müssen unsere Partei weiterentwickeln. Wir brauchen einen
strukturellen, organisatorischen, inhaltlichen und strategischen
Neuanfang. Das wird uns nur gelingen, wenn wir diesen als Partei
gemeinsam gestalten. Deshalb möchte ich, dass wir unter uns in der Partei
engagiert und kritisch diskutieren, darüber hinaus auch mit allen
gesellschaftlichen Gruppen und den klügsten Köpfen ins Gespräch kommen
und dies nicht nur in Deutschland, sondern in Europa und weltweit. Es
gibt überall gute Ideen und wichtige Erfahrungen, die wir sammeln können.
Ich möchte einen sorgfältigen Prozess anstoßen, der über einen längeren
Zeitraum sichtbar sein wird. Ich möchte zuhören und verstehen, was die
Erwartungen an die SPD sind, wo wir Fehler gemacht haben und was wir tun
müssen, um zu neuer Stärke zu kommen. Dieser Aufgabe werde ich meine
ganze Kraft als SPD-Vorsitzender widmen.
In den kommenden Tagen und Wochen werde ich Vorschläge machen, die uns
helfen sollen, miteinander ins Gespräch zu kommen. Ich werde im ganzen
Land unterwegs sein, um über die Ursachen unserer Wahlniederlage und die
notwendigen Konsequenzen mit Euch zu sprechen. Wir werden in der
ganzen Partei sehr sorgfältig analysieren, wie wir besser werden können.
Die Ergebnisse dieser Diskussionen verdichten wir dann in einem
ambitionierten Arbeitsprogramm, das beim Parteitag im Dezember
beschlossen werden soll.
Dieser Prozess wird Zeit brauchen, weil ich entschlossen bin, ehrlich und
grundlegend über die Probleme der SPD und die notwendigen Konsequenzen zu
beraten, damit wir zu einem Neustart kommen, der uns wieder
mehrheitsfähig macht. Eine erneuerte SPD muss den Anspruch haben, die
Regierung in Deutschland anführen zu können. Spätestens beim ordentlichen
Parteitag 2019 werden wir die Weichen für 2021 stellen, um bei der
nächsten Wahlauseinandersetzung wieder erfolgreich zu sein.
Liebe Genossinnen, liebe Genossen,
ich bin traurig und auch erschüttert über unser Wahlergebnis. Es ärgert
mich, dass ich es als Spitzenkandidat nicht geschafft habe, die
Ideenlosigkeit der Konservativen deutlich zu machen. Es treibt mich immer
noch um, warum wir mit unserem guten Programm für mehr Gerechtigkeit und
eine bessere Zukunft nicht zu den Menschen durchgedrungen sind.
Gleichzeitig bin ich fest entschlossen, gemeinsam mit Euch unsere Partei
wieder zu neuer Stärke zu bringen und möglichst schnell die
Oppositionszeit hinter uns zu lassen.
Wir haben über 150 Jahre für ein besseres und gerechteres Land und für
ein freies und sicheres Europa gekämpft. Mehr denn je wird die SPD in
diesen Zeiten gebraucht. Gerade die über 3.000 Neumitglieder, die
nach der Wahl in die SPD eingetreten sind und die über
25.000 Mitglieder, die seit Januar zu uns gekommen sind, geben mir
Hoffnung, dass wir die Kraft und Zuversicht dafür finden werden. Wenn wir
solidarisch zusammenhalten und schreiten Seit´ an Seit´, wird uns das
gelingen.
Mit sozialdemokratischen Grüßen
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